Nur die Ruhe

Einsamkeit im Trentino: In der Lagorai-Kette locken überraschend stille Pfade und viele kleine Seen in ursprünglicher Natur.

Drei italienische Damen, deren Leibesfülle von der guten Trentiner Küche zeugt, bleiben immer wieder stehen und richten ihren Blick zum Horizont. Man kann es ihnen nicht verdenken, denn erstens ist es auch für normalgewichtige Menschen schon recht anstrengend, den Pfad vom Campelle-Tal zum Rifugio Caldenave zu erklimmen, und zweitens ist die Aussicht wirklich spektakulär. Tiefblaue Bergseen, hinter denen schroffe Zweitausendergipfel stehen, im Nordosten ragen die zerklüfteten Felszitadellen der Kalkdolomiten in den Himmel. Knapp vier Autostunden südlich von München liegt eins der ursprünglichsten Wandergebiete der Südalpen: der Lagorai.

In der etwa 70 Kilometer langen Bergkette östlich der italienischen Stadt Trient scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Wir sind ein paar Tage in der Region unterwegs, um wandernd ihre Highlights kennenzulernen. Neben dem heutigen Ziel, der Cima Orsera (2471 m), stehen der Col di San Giovanni (2251 m) und, als Nummer drei der Gipfelparade, der Pizzo di Levico (1908 m) auf dem Plan. »Es verirren sich nicht viele Wanderer hierher«, sagt auch Elio Gonzo, der Wirt des Rifugio Caldenave. Aus dem Tal wuchtet er mehrmals pro Woche Lebensmittel und Material mit einer Schubkarre zur Hütte auf knapp 1800 Metern. Steil aufragende Granitfelsen erheben sich hinter dem Steingebäude, das mit seiner ausladenden Terrasse und den dunklen Fensterläden wie eine rustikale Alm anmutet.

Gleich nebenan plätschert ein glasklarer Gebirgsbach, zottelige Esel und Pferde grasen vor sich hin. Mein Freund Gregor und Fotograf David essen ein riesiges Stück Apfelkuchen auf einer Holzbank in der Sonne. Die friedliche Idylle erinnert an eine Szene aus Astrid Lindgrens Kinderbüchern – zumindest, wenn man sich die hohen Berge wegdenkt. Wer die rund achtstündige Rundtour vom Val Campelle auf den Gipfel der Cima Orsera auf sich nimmt, genießt neben Apfelkuchen und Trentiner Spezialitäten wie Polenta mit Kaninchen auch großartige Fernsichten über den Lagorai und das lieblich-grüne Tal Valsugana. Ausgedehnte Nadelwälder prägen die steilen Flanken der Bergkette, die sich entlang der Südflanke des Val di Fiemme (auf Deutsch Fleimstal), nordöstlich von Trient, erstreckt. In zunehmenden Höhen geht der Wald in eine vegetationsarme, ursprüngliche Felslandschaft über. Hinter der Caldenave-Hütte ragt die Cima d‘Asta in den Himmel, mit 2847 Metern der höchste Berg der Fleimstaler Alpen.

Geologen unterscheiden die Lagorai-Kette von der Cima d‘Asta, weil sie nicht aus Granit, sondern aus Porphyr besteht. Rein optisch gehören die beiden aber zusammen. Sie formen ein Gebiet, das zu den wenigen Geheimtipps der Südalpen zählt, mit einer weitgehend sich selbst überlassenen Natur. Dass uns nur wenige Wanderer begegnen, liegt weder an fehlenden imposanten Aussichten noch Trentiner Köstlichkeiten, sondern an der mangelnden Bekanntheit der Region […].

>> Der komplette Text erschien im Magazin outdoor 05/2018. Motorpresse Stuttgart GmbH.

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