Gwächtenhorn, du wilde Schönheit. Auf Hochtour im Kanton Bern.

„Vier Uhr, aufstehen“, sagt Norbert und rüttelt an meinem Kopfkissen. Drei Minuten später stehe ich auf dem Holzboden im Schlafraum der Tierberglihütte. Eine Hand findet die Brille, ich falle in die Kleider. Lange Unterhose, Merinoshirt, Softshell. Nach zweimaligem ausgiebigen Gähnen stolpere ich den Gastraum der auf 2795 Metern gelegenen Berghütte. Zum Frühstück gibt’s eine Hand voll Müsli und eine Tasse Schwarztee, mehr passt zu dieser frühen Stunde nicht in meinen Magen. Norbert hebt müde seine Tasse. Seine Ehrfurcht hält sich in Grenzen, heute steht eine vergleichsweise einfache Tour auf das Gwächtenhorn auf 3420 Meten Höhe an. „Es hat Regen, beziehungsweise weiter oben Schneefall und starken Wind gemeldet“, gibt Norbert zu verstehen. Auch die anderen drei unserer Gruppe, Jürgen, Cordula und Andreas, geben sich tiefenentspannt oder verschlafen, je nachdem, wie man es sieht.

Alle weisen recht viel Erfahrungen auf, was Hochtouren angeht. Schon auf der Autofahrt ins Kanton Bern wurde kurz hinter dem Sustenpass gefachsimpelt, wann welche Touren am besten zu meistern sind. Cordula reiht ihre Gipfelparade der letzten Jahre auf.

Wenige Minuten später stehen wir vor der Hütte, streifen die Regenklamotten über und legen die Gurte an. Steigeisen passen, wir marschieren zum Rand des Gletschers und seilen uns an. Schön hintereinander, mit jeweils ca. sieben Metern Abstand. Als ich den Aluschaft des Eispickels in der Hand halte, fühle ich mich wie eine echte Bergsteigerin. Für die Höhe und die Uhrzeit ist es recht warm, ich schätze ca. null Grad. Wenn man morgens früh aufbricht, sind die Schneebrücken über die Spalten noch stabiler und die Lawinengefahr ist am geringsten.

Links in etwas weiterer Ferne erhebt sich mit 3503 Metern das Sustenhorn. Das Gwächtenhorn und der Rotstock verstecken sich im Nebel. Unsere Tour führt über den doch sehr steilen Steingletscher mehr oder weniger immer geradeaus, bis zum Westgrat des Gwächtenhorns. Dort sollen die Steigeisen abgeschnallt werden, was folgt, ist eine Gratüberschreitung zum Gipfel und ein Rundweg zurück über den Steingletscher zur Tierberglihütte. Knapp 700 Höhenmeter bergauf, Kletterpassage über den Westgrat, wieder knapp 700 Höhenmeter bergab. Ca. fünf Stunden reine Gehzeit. Soweit die Theorie.

Ich folge Norbert und Jürgen, die vor mir am Seil den Gletscher hinaufstapfen. Der Schnee ist ziemlich weich. Mit einem Schraubkarabiner bin ich in eine Seilschlaufe eingehakt. „Je kleiner die Gruppe, desto größer müssen die Abstände sein“, erklärt Cordula. „Wenn jemand in eine Spalte stürzt, legst du dich aufs Eis und bremst mit dem Pickel.“ Die Schneedecke zieht sich trügerisch glatt über den Hang. Ein unheimliches Gefühl, dass sich darunter tiefe Spalten auftun, die man nicht sehen kann. Erst mit jahrzehntelanger Erfahrung könne man anhand von Indizien wie Schneefarbe, Hangneigung, Buckeln und Geländeabbrüchen die Gefahr von Spalten einschätzen, erklärt Norbert.

Aber solange man das Gelände nicht einschätzen kann, was fast immer der Fall ist, hilft nur eins: Anseilen. Wer dann in die Spalte rasselt, kann am Seil wieder herausgezogen werden. Die Spaltenbergung sieht, grob skizziert, so aus: Hängt der Gestürzte im Seil, errichten die Retter einen sicheren Standpunkt. Am besten halten Eisschrauben im Gletschereis, deshalb baumelt eine an meinem Gurt. Ist die Schneedecke zu dick dazu, konstruiert man einen T-Anker. Dabei wird ein Eispickel quer zur Zugrichtung in den Schnee gegraben und festgetreten. Von diesem Fixpunkt aus wird mittels Reepschnüren und Karabinern die Last übertragen, sodass die Retter, die vorher das Opfer mit ihrem Körpergewicht halten mussten, frei agieren und den Gestürzten aus der Spalte ziehen können. Wer schwer ist, muss mit einer losen Rolle gerettet werden – die ist allerdings nicht ganz so einfach zu erklären.

Wir stapfen schweigend über den Gletscher immer weiter hinauf. Gerne möchte ich meinen Blick schweifen lassen, doch man sieht nichts. Das Gwächtenhorn versteckt sich im Nebel. Der Schnee knirscht unter meinen Steigeisen. Ich atme schnell und kurz, es ist verdammt anstrengend. Die meditative Ruhe findet ein plötzliches Ende. Zug auf dem Seil, Jürgen ist weg. Nach wenigen Sekunden taucht sein Arm aus dem Schnee auf. Zum Glück war die Spalte schmal und Jürgen angeseilt, sodass er sich selbst befreit. Der Schreck erweckt die Lebensgeister.

Mein Puls geht ungewöhnlich schnell. Ich weiß nicht genau, ob vor Aufregung oder wegen der Höhe. Beides wahrscheinlich. Wir wandern weiter, noch ca. 300 Höhenmeter durch eine Welt aus Weiß.  Nach einem steilen Anstieg fängt es wie irre an zu regnen. Pappiger Schneeregen prasselt auf uns hinab, dazu zieht ein kräftiger Wind an meiner Jacke. Ich ziehe meine Kapuze tiefer ins Gesicht und ramme die vorderen Zacken der Steigeisen ins immer steiler werdende Gelände. Stolz sollte sich jetzt das Gwächtenhorn vor uns erheben, doch wir sehen es immer noch nicht. „Wer will den Grat überschreiten?“, fragt Norbert und blickt in schweigende Gesichter. „Option A: Wir steigen über den Grat. Er ist rutschig, man muss klettern und es gibt keine Sicherungen. Oder, Option B: Wir laufen den Weg, den wir gekommen sind, zurück zur Hütte.“ Die Entscheidung ist einstimmig gefällt, ab zur Hütte. Klettern mit Absturzgefahr bei Sturm und Nässe, mit Händen, die man vor Kälte kaum noch spürt, klingt nicht gut. Dann lieber ein zweites Frühstück.

Der Abstieg ist geschenkt. Wir laufen den Weg, den wir gekommen sind, zurück zur Tierberglihütte. Diesmal wissen wir, wo die tückische Spalte ist. Beim Kaffee im Gastraum mutet unsere Tour fast unwirklich an. Gern möchte ich wissen, wie das so war, auf alle den anderen Hochtouren, und damals am Mount Blanc. „Lern du erst mal die Spaltenbergung“, sagt Andreas.

 

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