Daher weht der Wind: Unterwegs im marokkanischen Essaouira
„Über Essaouira kann man nichts wissen. Man kann Essaouira nur erfahren. Und wenn einer den Wind nicht ertragen kann, der zur Stadt gehört wie der Algengeruch und der Schrei der Möwen, dann sollte er innehalten im logischen Denken und den Kunsttischlern zusehen, wie sie das eisenharte Wurzelholz aus der Thuja-Palme bearbeiten. Dann würde er begreifen, dass die wesentlichen Dinge des Lebens nicht zu erzwingen sind.“ – Mohammed Sanoussi, marokkanischer Dichter.
Vier Stunden sind Madita, eine Freundin aus der Unizeit, und ich mit einem Bus von Marrakesch durch das karge Inland in Richtung Westen gefahren. Als sich in Essaouira die Bustür öffnet, schlägt uns der immerwährende Wind entgegen, der Geruch nach Hafen und das Geschrei der Möwen. Wir laufen durch die Medina zu unserer Unterkunft. Durch Gassen voller Menschen, Farben und Gerüche, in denen die Häuser mit ihren abgebröckelten Fassaden und kobaltblauen Türen so eng beieinanderstehen, dass man seinem Nachbar durch das offene Fenster schon fast die Hand reichen könnte. Essaouira ist eine europäisch angelegte Planstadt. Es gibt kaum verwinkelte Gassen. Stattdessen schnurgerade Wege, was für eine orientalische Altstadt ungewöhnlich ist. Kleine Stände voller Fisch, Gemüse und Getreide reihen sich aneinander, aus den Nachbarstraßen dringt Gitarrenmusik zu uns durch.
In Essaouira gibt es genauso viele Galerien und Bars wie Cafés. Hier, an der Küste Marokkos, wo sich die Künstler und Hippies ansiedelten, kurz nachdem Jimi Hendrix 1969 zum ersten Mal hier war.
Essaouira heißt auf Arabisch „die Eingeschlossene.“ Noch immer umschließen Wehrmauern die Altstadt hinter den Zinnen, Mauern und Stadttoren. Europäische Festungsarchitektur beschützte damals die islamische Medina und ein Handelszentrum mit über fünfzig Niederlassungen aus aller Welt. Einst gab es in Essaouira zwölf Moscheen für ca. 8000 Muslime und 36 Synagogen für etwa 10.000 Juden. Die Juden sind gegangen, heute wohnen arme Leute in der Medina, Karrenschieber, Händler und Handwerker. Aus den Werkstätten der Handwerker und Kunstschnitzer dringt ein lautes Hämmern. Thujaholz wird zu Skulpturen verarbeitet. Alte Steintröge reihen sich in einem Innenhof aneinander, in denen Färber ihrer Schafwolle kräftige Farben verleihen. In angrenzenden Handwerkersbetrieben werden sie zu Schuhen, Stoffen und Teppichen verarbeitet.
Wer Rang und Namen hatte, wohnte früher in der Kashbah. Noch erinnern prunkvolle Türverzierungen an die alten Zeiten des Wohlstandes. Neben der arabischen Oberschicht, wohnten hier bis Ende des 19. Jahrhunderts einige wohlhabende christliche und jüdische Kaufleute aus Europa. Essaouira war schon immer eine weltoffene Stadt. Wer es sich leisten konnte, wohnte in einem Riad. Der Innenhof, das Atrium, war das Zentrum des Familienlebens. Kinder spielten im Hof, die Straße war ihnen verboten und die Atriumbauweise gestaltete das Klima angenehm. Kühl, luftig und diskret, lebt man fern vom Lärm der Stadt.
Ich bin fasziniert von der Herzlichkeit der Menschen. Wir schlendert zum Hafen, wo Fischer ihren Fang feilbieten. Wo heute kleine Fische gehandelt werden, lag einst der größte Seehafen Nordafrikas. Essaouira war das Tor Timbuktus, ein Umschlagplatz für Waren aus dem ganzen afrikanischen Hinterland. Dahinter der kilometerlange Strand, auf dem Kamele liegen und in Wassernähe verschleierte Frauen neben Touristinnen im Bikini sitzen. „Magisch.“ Das ist das Wort, was unser Hotellier sagt, wenn man ihn fragt, was diese Stadt so besonders macht. Man kann das kitschig finden. „Es liegt an dem Wind. Er verleihe dieser 85.000 Einwohner großen Hafenstadt eine einmalige Atmosphäre. Oder an dem Mythos von freedom, love and peace, den die Hippies und Jimi Hendrix brachten“, sagt er. Vielleicht stimmt alles ein bisschen. Was es auch ist: Diese Stadt bringt einige Zugezogene dazu, für immer zu bleiben.
In einer der Seitenstraßen setzen wir uns in einen Hauseingang und schauen uns um. Ein junger Mann kommt vorbei und wäscht sich am öffentlichen Wasserhahn die Haare. Kinder laufen lachend vorüber. Viele Hotels und Cafés gehören Europäern, die sich hier niedergelassen haben. Einige sind Pendler zwischen Afrika und Europa. „Immer, wenn man in Essaouira ist, will man nach einiger Zeit wieder weg. Der Wind ist zu stark, die Medina überfüllt, es fehlt der Wald. Aber dann, sobald man in Europa ist, vermisst man es“, sagt Judith, die früher in Köln bei einer Versicherung arbeitete und heute in Essaouira ein kleines Bed and Breakfast führt.
Es ist früher Abend, der Muezzin ruft. Die Gassen der Medina leeren sich. Mit dem Sonnenuntergang und einem Minztee in der Hand sitzen wir später in einer Strandbar und denken: So kann man es aushalten. Sonnenschirme flattern im Wind. Nirgendwo in Marokko weht der Wind so stark wie hier in Essaouira. Und mit ihm wirbelt der Sand auf. Der Wohnsitz des Sultan im europäischen Baustil versinkt allmählich. Für immer bleiben wird jedoch die Legende um ein Lied, was Jimi Hendrix hier geschrieben haben soll: „Castles Made of Sand.“